Gründervater der USA: Thomas Paine war Rebell und Weltveränderer - WELT (2024)

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Seine Propagandaschriften trugen maßgeblich zum Sieg der amerikanischen Siedler über das englische Mutterland bei, seine politischen Ideen hinterließen Spuren in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, er zählte amerikanische Präsidenten zu seinen Freunden und Förderern, er prägte die Bezeichnung "United States of America“ – doch sein Leben endete in Elend, Armut und Einsamkeit. Die Rede ist von Thomas Paine, der vor 200 Jahren am 8.Juni 1809 in New York starb.

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Sein Lebensweg mäandert zwischen kleinbürgerlicher Bedeutungslosigkeit und publizistischem Ruhm, zwischen Anerkennung und Hass, zwischen allerlei Berufen und einer einzigen Berufung: der publizistischen. Doch als Konstante erweist sich dieser Charakterzug: Stets hat er Widerspruch angemeldet, Einspruch eingelegt und für Reformen plädiert. Er protestiert gegen die Unterbezahlung der englischen Steuerbeamten, gegen die Sklaverei in Amerika, gegen die dortige Kolonialherrschaft der Engländer, gegen die Hinrichtung des französischen Königs Louis XVI. durch die Jakobiner. Und am folgenreichsten: Er bekämpft die Monarchie und die hierarchisch organisierten christlichen Kirchen.

Nach einer vulgärpsychologischen Erklärung solcher Charakterzüge wollen wir hier nicht gründeln, doch diese Vermutung sei erlaubt: dass Paines unbändige Liebe zur Freiheit und Lust zur Insubordination durch seine Herkunft aus dem Milieu der Quäker beeinflusst ist – jener christlichen Glaubensgemeinschaft, der auch Paines Vater angehörte. Diese vertritt seit ihrer Gründung im 17.Jahrhundert kompromisslos die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen: Jegliche kirchliche Hierarchie, Sakramente und Kriegsdienst werden abgelehnt.

In dieses Milieu wurde Thomas Paine am 29.Januar 1737 geboren, in ihm wuchs er auf. Sein Vater war in Thetford (Grafschaft Norfolk) ein biederer Kleinbürger – Korsettmacher von Beruf, den auch sein Sohn ergreifen sollte. Dass ein aufgeweckter, lebhafter Junge wie Thomas das Herstellen von Korsetts nicht gerade als erträumtes Berufsziel betrachtete, war vorauszusehen.

Doch auch der Beruf eines Steuerbeamten machte ihn nicht glücklich – nach kurzer Zeit wurde er wegen Nachlässigkeit entlassen. Erst als er im Jahr 1772 erneut den Beruf des Steuereintreibers ergreift, erkennt – und nutzt – Paine seine Begabung als polemischer Journalist, Publizist und geschickter Agitator. Er macht sich zum Sprecher der unterbezahlten Steuerbeamten und verfasst eine Petition an das Parlament.

Die Bürokratie "is not amused“ und setzt den Aufmüpfigen prompt auf die Straße. Doch nun sind die Talente des Autodidakten entdeckt – so von Benjamin Franklin, zu jener Zeit Gesandter Pennsylvanias in England. Dieser gibt dem inzwischen englandmüden Paine ein Empfehlungsschreiben an seinen Schwiegersohn in Philadelphia mit – am 30.November 1774 betritt Paine amerikanischen Boden.

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Dieser Zeitpunkt hätte für Aktivitäten eines rebellischen Geistes wie Paine nicht günstiger sein können. Die Empörung der amerikanischen Siedler über die Ausbeutung durch England hat einen Höhepunkt erreicht. Paine hat jetzt Gelegenheit, seine journalistische Begabung unter Beweis zu stellen. Am 10. Januar 1776 erscheint seine Schrift "Common Sense“, die sogleich zur Bibel der Amerikanischen Revolution wird. Nach drei Monaten sind 120.000 Exemplare verkauft. Unter Berufung auf das Naturrecht und die Bibel verwirft Paine die Monarchie. Die englischen Könige werden als "Schurken“ beschimpft, von deren ausbeuterischen Herrschaft die Kolonien befreit werden müssen.

Auf diese gedanklichen Höhenflüge folgt jedoch bald die militärische Ernüchterung. Nach ihrer Niederlage bei Long Island befinden sich die Amerikaner auf dem Rückzug. Doch wieder ist Paine zur Stelle. Am 19.Dezember 1776 erscheint im „Pennsylvania Journal“ sein bekanntester Artikel: "The American Crisis“. Dieser beginnt mit dem einprägsamen, am häufigsten zitierten Satz Paines: "These are the times that try men’s souls“. (Diese Zeiten stellen die Herzen der Menschen auf die Probe.)

In diesem propagandistischen Meisterstück appelliert Paine an die Amerikaner, trotz der englischen Übermacht den Kampf für ein unabhängiges, republikanisches Amerika fortzusetzen. Im Wissen um die Wirkung dieses Textes ließ der amerikanische Oberbefehlshaber George Washington am Weihnachtsabend 1776 vor dem Angriff auf Trenton seinen Soldaten "The American Crisis“ vorlesen – und die Amerikaner siegten.

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Nach dem Kriegsende im Jahre 1783 hat jedoch der Mohr seine Schuldigkeit getan. Für Paine findet der junge Staat, dem er erstmals Mitte Januar 1777 in seiner zweiten "Crisis“-Flugschrift seinen Namen gab, keine rechte Beschäftigung mehr. Im April 1787 begibt er sich nach Europa – zunächst für einige Monate nach Frankreich, dann für fünf Jahre nach England.

Der Ausbruch der Französischen Revolution im Jahre 1789 erweckt Paines rebellischen Geist zu neuem Leben. Bereits Anfang 1790 beginnt er mit der Abfassung eines Berichts über die Französische Revolution. Diesen aktualisiert er durch eine Auseinandersetzung mit der am 1.November 1790 erschienenen revolutionskritischen Schrift "Reflections on the Revolution in France“ des konservativen Politikers Edmund Burke.

Unter dem Titel "Rights of Man“ erscheint Paines revolutionsfreundliches Buch schließlich am 13.?März 1791. Es wird – ähnlich wie Paines "Common Sense“ – zum Bestseller: Bis 1793 werden 200.000 Exemplare verkauft. Wiederum verzichtet er auf sein stattliches Honorar: Er spendet es einer republikanischen Vereinigung. Die britische Regierung reagiert heftig – mit einer "Proklamation des Königs gegen aufrührerische Schriften“. Im Dezember 1792 wird Paine der Prozess gemacht. Das Gericht erklärt ihn zum "outlaw“ (Geächteten), die "Rights of Man“ werden als "aufrührerisch“ verboten. Verleger und Verkäufer seiner Bücher werden oft zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt oder gar in die damalige Strafkolonie Australien deportiert.

Worin besteht das "Aufrührerische“ in Paines Schrift? In den politischen Konsequenzen der Behauptung, alle Menschen seien von Natur aus gleich und frei: Abschluss eines Gesellschaftsvertrages zwischen den Individuen, Regierung durch das Volk, allgemeines und gleiches Wahlrecht und so weiter und so fort. Am 12.September 1792 – noch vor seinem Prozess – verlässt Paine England und reist nach Paris.

Hier wird er mit offenen Armen empfangen: Die Revolutionäre ernennen ihn zum französischen Ehrenbürger und entsenden ihn als Vertreter des Pas de Calais in die Nationalversammlung. Doch bald gerät er zwischen die Mühlsteine der sich im Konvent bekämpfenden Fraktionen. Als Freund der gemäßigten Girondisten macht er sich bei den radikalen Jakobinern unbeliebt. Er wird während der Terrorherrschaft Robespierres ins Gefängnis geworfen, entgeht nur knapp der Guillotine und kommt erst nach fast einjähriger Haft im November 1794 frei.

In jenem und im folgenden Jahr veröffentlicht Paine beide Teile seines deistischen Manifests "The Age of Reason“. Die kirchliche Orthodoxie, gleich welcher Konfession, ist über diesen Frontalangriff auf die christliche Offenbarungsreligion empört und drückt dem Deisten zu Unrecht das Kainsmal des Atheisten auf. Mit dem Abflauen der revolutionären Stürme in Frankreich und dem Aufstieg Napoleons zum Alleinherrscher im November 1799 werden die Stimmen von radikalen Agitatoren wie Paine, der sich immer noch in Paris aufhält, schwächer.

"Schmutziger kleiner Atheist"

Auf Einladung des Präsidenten Jefferson, der ihn stets unterstützt hat, kehrt er im Herbst 1802 nach Amerika zurück. Hier empfängt ihn das Hassgeschrei seiner Gegner, die ihm seine Schrift "The Age of Reason“ verübeln, aber auch seinen Kampf gegen die Sklaverei und für die Rechte der Frauen. Seine letzten Lebensjahre verbringt Paine zunächst angefeindet, dann unbeachtet und vergessen in New York City oder im knapp 30 Kilometer entfernten New Rochelle. Nach zwei Schlaganfällen stirbt er am 8. Juni 1809.

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Da die Quäker den Wunsch des "Gottlosen“ abgelehnt hatten, auf ihrem Friedhof begraben zu werden, bestattete man ihn auf seiner Farm in New Rochelle, die ihm der Staat New York lange zuvor geschenkt hatte. Eine deprimierende Beerdigung: Sechs Privatpersonen folgten dem Sarg – kein Amtsträger würdigte Paines Verdienste um den jungen Staat – kein Geistlicher war da, der ihn begleitete.

Und sein Nachruhm? Der Gunst der demokratischen "Republicans“ steht der Hass der autoritätsgläubigen "Federalists“ gegenüber. In zahlreichen Publikationen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts erscheinen, wird er als gottloser, trunksüchtiger, verkommener Staatsfeind diffamiert. Noch hundert Jahre nach Paines Tod lässt sich Präsident Theodore Roosevelt dazu hinreißen, ihn als "schmutzigen kleinen Atheisten“ zu charakterisieren. Auf der anderen Seite applaudierten ihm Männer wie der deutsche Dichter Georg Büchner, der amerikanische Präsident Abraham Lincoln, der amerikanische Dichter Walt Whitman, der Erfinder Thomas A. Edison, der englische Philosoph Bertrand Russell, Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister Indiens, und Ronald Reagan.

Das letzte Wort soll Barack Obama – und mit ihm Thomas Paine – haben. In seinen Wahlkampfreden hat er oft genug aus Paines Schriften zitiert – insbesondere aus dessen "Common Sense“. Doch besonders eindrucksvoll lässt er am 20. Januar 2009 in seiner Antrittsrede Paine zu Wort kommen. An deren Ende zitiert er aus Paines berühmter Schrift "The Crisis“, um seinen Landsleuten in kritischer Zeit Mut zu machen – wie seinerzeit George Washington seinen Soldaten, als er ihnen am Vorabend der Schlacht Paines „Crisis“ vorlesen ließ: "Lasst es der zukünftigen Welt gesagt sein, dass mitten im Winter, als nur Hoffnung und Tugend überleben konnten, Stadt und Land, beunruhigt durch eine gemeinsame Gefahr, zusammenfanden, um ihr zu begegnen.“

Und pathetisch ruft Obama die Amerikaner dazu auf, sich jetzt an „diese zeitlosen Worte zu erinnern“. Dass er deren Urheber nicht erwähnt, ist zwar bedauerlich, doch klug: Paine ist auch heute noch nicht allen Amerikanern ganz geheuer.

Der Autor ist emeritierter Professor für Englische Philologie; er lehrte unter anderem an den Universitäten Mannheim und Heidelberg.

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